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Der menschliche Sehprozess – wie nehmen wir Licht wahr?

In diesem und weiteren Beiträgen geht es um die physiologischen Aspekte der Wahrnehmung von Licht und die Frage: Wie funktioniert der menschliche Sehprozess?
Ziel des Beitrags ist es, einen Überblick, über den Wahrnehmungsprozess zu geben. Details zu einzelnen Schritten folgen bald in weiteren Beiträgen.
Übrigens: Eine physikalische Betrachtung von Licht findest du im Wissensschnipsel Strahlung vs. Licht.


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Der Prozess des Sehens

Der menschliche Sehprozess lässt sich von seinem Ablauf mit jedem anderen Wahrnehmungsprozess vergleichen und grob in folgende Schritte einteilen (vgl. [1], S. 6):

Stimulus / Reiz

  1. Umgebungsreiz
  2. Fokussierter Reiz (Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Reiz)
  3. Reizaufnahme

    Reaktion
  4. Transduktion (Reizumwandlung)
  5. Reizübertragung
  6. Reizverarbeitung

    Erfahrung und Handlung

  7. Detektion (Wahrnehmung)
  8. Identifikation (Erkennen)
  9. Interpretation und Handlung

In diesem Beitrag schauen wir uns die einzelnen Schritte vom Reiz bis zur Reizverarbeitung (Schritte 1-6) an. Die letzten Schritte sind eher im Themenfeld der Neurologie einzuordnen und liegen damit nicht im Fokus dieser Webseite.

Der Reiz – was wir von der Umwelt sehen

Die ersten beiden Schritte des menschlichen Sehprozesses beinhalten eigentlich auch die darauffolgenden Schritte, es ist ein Kreislauf, der sich ständig wiederholt. Wenn wir sehen, nehmen wir automatisch sehr viele Reize aus der Umgebung wahr. Bei einem Spaziergang im Park beispielsweise scannen wir unbewusst die ganze Zeit die Umgebung. Bis ein bestimmter Reiz unsere Aufmerksamkeit erregt und wir uns auf ihn konzentrieren. Das kann ein Hund sein, der auf der Wiese neben uns rennt, das kann ein Ball sein, der vor uns über den Weg rollt. Unsere Aufmerksamkeit bestimmt, was wir aus unserer Umgebung bewusst wahrnehmen und was wir ausblenden. Hat etwas unsere Aufmerksamkeit erregt, gehen wir zu Schritt drei, der Reizaufnahme über.

Das menschliche Auge – Startpunkt des menschlichen Sehprozesses

Gibt es einen Reiz, der unsere Aufmerksamkeit erregt, fokussieren wir uns auf ihn – wortwörtlich. Die Muskeln unseres Auges verformen unsere Linse, so dass das Objekt, das uns gerade interessiert, fokussiert auf unserer Netzhaut abgebildet wird (vgl. [1], S. 45). Details zur Anatomie des menschlichen Auges findest du in diesem Beitrag: Das menschliche Auge – Aufbau und Funktion
Damit kommen wir zu Schritt drei des menschlichen Sehprozesses, der Reizaufnahme. Das Licht, das in unser Auge gelangt, führt zu einer Stimulation unserer Sinneszellen auf der Netzhaut oder Retina, wie unsere Netzhaut auch genannt wird. Die lichtempfindlichen Sinneszellen werden auch Rezeptoren genannt und sie sind mit einer Reihe von Nervenzellen verbunden, die für die Reizumwandlung und eine Vorverarbeitung sorgen.
In Abbildung 1 ist schematisch der Aufbau der Netzhaut dargestellt.  

Abbildung 1: Aufbau der menschlichen Netzhaut.

Das menschliche Auge besitzt zwei Arten von Rezeptoren für die visuelle Wahrnehmung, die Stäbchen und die Zapfen. Von den Stäbchen gibt es deutlich mehr, zwischen 90 und 125 Mio Stück, von den Zapfen dagegen ca. 4,5 bis 6 Mio (vgl [2], S. 71; [3], S. 11). Und wie im Beitrag Strahlung vs. Licht schon beschrieben wurde, bestimmt deren Empfindlichkeit für verschiedene Wellenlängen unsere Wahrnehmung von Strahlung. Dazu gibt es einen separaten Beitrag: Die Rezeptoren des Auges – Zapfen und Stäbchen.

Von der Reizaufnahme zur Reizverarbeitung

Schauen wir uns nun einmal die Schritte vier bis sechs des menschlichen Sehprozesses an.

Reaktion der Rezeptoren

Erreicht Licht durch die Linse unsere Retina, reagieren die Rezeptoren darauf. Die Rezeptoren verfügen über lichtsensitive Sehpigmente, die durch die Energie von auftreffenden Photonen ihre molekulare Form verändern – sie werden „aktiviert“. Wird ein Sehpigment aktiviert entsteht eine Art Kettenreaktion, denn jedes angeregte Molekül eines Rezeptors regt bis zu einer Million weitere Moleküle an, so dass bereits ein Photon ausreichen kann, um die Reaktion eines Rezeptors auszulösen.
Diese Reaktion ist zunächst ein chemischer Prozess, der Isomerisation genannt wird.  Dieser löst die Umwandlung des Reizes in einen elektrischen Impuls aus, der von dem Rezeptor an weitere Zellen weitergeleitet wird (vgl. [1], S. 48-50, [4], S. 4).

Signalweiterleitung durch Nervenzellen

Direkt an den Rezeptoren liegen die Bipolarzellen. Von diesen wird der Impuls an die Ganglienzellen weitergeleitet. Daneben gibt es noch Horizontal- und Amakrinzellen, die als Verbindungen zwischen (mehreren) Ganglien- und Bipolarzellen aber auch Rezeptoren dienen. Diese komplexen Verknüpfungen sorgen dafür, dass Signalimpulse erzeugt werden, wenn bestimmte Zellen reagieren und andere nicht. Das ermöglicht es den Horizontal- und Amakrinzellen bspw. auf lokale Hell-Dunkel-Kontraste, also Kanten, zu reagieren.  Und es führt zu der so genannten lateralen Inhibition. Das bedeutet, dass Zellen aktiviert (gehemmt) werden, obwohl kein (ein) Reiz vorliegt (vgl. [1], S. 61 ff., [2], S. 73). Du hast vielleicht schon mal das Hermann Gitter gesehen – ein weißes Gitter auf schwarzem Grund wie in Abbildung 2. Der Effekt ist, dass in den Kreuzungspunkten schwarze Flecke zu sehen sind, doch bei Fokussierung auf diesen Bereich verschwinden sie – eine optische Täuschung, hervorgerufen durch die Verschaltung unserer Zellen in der Retina. Es gibt noch andere Beispiele, wie die Machschen Bänder.

Optische Täuschung - das Hermann-Gitter
Abbildung 2: Das Hermann-Gitter, ein Beispiel für eine optische Täuschung, die durch die Verschaltung unserer Rezeptoren entsteht.

Von der Retina zum visuellen Cortex

Der visuelle Cortex (VC) ist der Teil unseres Gehirns, der für die Verarbeitung der visuellen Informationen zuständig ist. Er sitzt im Bereich unseres Hinterkopfes, wie in Abbildung 3 dargestellt ist.

Der menschliche Sehprozess - vom Auge zum Gehirn
Abbildung 3: Verlauf der Sehnerven von unseren Augen zum Visuellen Cortex im Gehirn.

Von der Retina bis zum VC finden sich kaskadenartige Verbindungen von Neuronen, die nach und nach immer komplexere Analysen der Informationen ermöglichen. Hier ein Beispiel: die Reaktion auf einen lokalen Kontrast. Während in den ersten Stufen der Kontrast ganz punktuell verarbeitet wird, führen die dann folgenden Verschaltungen zu Reaktionen auf Linienstrukturen, dann auf die Ausrichtung der Linien und schließlich auf bestimmte Silhouetten und Bewegungen. Schließlich kommen dann auch Tiefen- und Ortsinformationen dazu. Allerdings gibt es auch immer wieder Rückführungen von Signalen zu den vorgeschalteten Arealen und Verknüpfungen zu anderen Bereichen des Gehirns, die bspw. für die Steuerung von Kopf- und Augenbewegungen oder andere Reaktionen verantwortlich sind (vgl. [4], S. 9ff., S. 15ff.).

Transfer zur Lichttechnik / Optik

Warum ist für uns interessant, was im Auge und auch danach mit den Sehinformationen passiert?
Das kann beispielsweise für die Entwicklung neuer Beleuchtungssysteme wichtig sein. Beispiel Straßen- und Automobilbeleuchtung: Wenn wir wissen, welche Merkmale von Objekten besonders relevant für eine schnelle Identifikation sind, dann können wir versuchen die Beleuchtungssysteme so zu optimieren, dass diese Merkmale möglichst gut sichtbar sind.

Ein anderes Beispiel ist der Einzelhandel. Hier werden die Mechanismen unseres Gehirns genutzt, um unsere Kauflaune zu erhöhen. Sicher hast du schon von den speziellen Beleuchtungen gehört, durch die Lebensmittel besonders schmackhaft und frisch aussehen sollen. Weitere Infos dazu findest du beispielsweise bei Beleuchtung Direkt.

Als letztes Beispiel möchte ich noch die Auswirkung des Lichts auf andere physiologische Aspekte erwähnen. Zum Beispiel auf den Tag-Nacht-Rhythmus, der durch einen hohen Blauanteil in der Beleuchtung gestört wird und damit eine große Relevanz in der Innenbeleuchtung und der Entwicklung von Monitoren und Displays hat (vgl. [2], S. 93ff).

Quellen und weiterführende Literatur

[1] Goldstein: Sensation and Perception. 8th Ed., Wadsworth, Belmont, 2010

[2] Baer, Barfuß, Seifert: Beleuchtungstechnik. 4. Aufl. HUSS-Medien GmbH, Berlin, 2016.

[3] Hentschel: Licht und Beleuchtung. 5. Aufl. Hüthig, Heidelberg, 2002

[4] Goebel, Muckli, Kim: Visual System. In: Paxinos, Mai (Hrsg.): The Human Nervous System, 2nd Ed. Elsevier Academic Press, San Diego 2004

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